Mario, kath. Pfarrer

Seit der Pubertät weiss ich, dass ich schwul bin. Ich hatte meinen ersten Freund mit 17 Jahren. Ich war damals im Internat. Dank den Einzelzimmern konnten wir unsere Beziehung sehr eng und innig leben. Nach drei Jahren stellte sich dann heraus, dass Ueli doch lieber heiraten wollte und sich Kinder wünschte. Mir fiel es unendlich schwer, diesen Wunsch zu akzeptieren, da er unsere Trennung bedeutete.

In der Zeit danach besann ich mich wieder auf meine Berufung. Seit meiner Kindheit wollte ich Pfarrer werden. Dieser Beruf hat mich immer sehr fasziniert. Meine Eltern erzählten mir, dass sie bei Reisen und Ausflügen mit mir in jede Kirche gehen mussten. Ich hätte da nie locker gelassen. Zu Hause spielte ich "Pfärrerlis" und hatte mein Zimmer sogar in einen Kirchenraum verwandelt. Jahrzehnte später habe ich festgestellt, dass meine Berufung bereits in meiner Kindheit vorhanden war, also zu einer Zeit, als ich noch nichts von "schwul" wusste. Meine Religiosität war auch nicht anerzogen worden, da ich in einem ökumenisch-liberalen Hause aufwuchs. Meine Eltern waren seit jeher offen. Sie gingen mit der Zeit und waren tolerant. Und doch hatte ich mich erst mit 35 Jahren bei ihnen geoutet.

Nach dem Bruch der Beziehung mit Ueli begann ich mit dem Theologiestudium, liess mich weihen und wurde Vikar. Mit 30 Jahren übernahm ich als Pfarrer meine erste Pfarrei. 15 Jahre lang ging ich vollends auf in Studium und Tätigkeit und hatte es gut mit mir und meinem Job. Ich hatte 15 Jahre keinen Sexpartner, onanierte aber regelmässig. Ich war glücklich und hatte nicht das Gefühl, dass mir etwas fehlte. Natürlich dachte ich an eine Freundschaft mit einem Mann. Aber es war nicht ein drängender und dringender Gedanke. Immer wenn ich darüber nachdachte, überkam mich aber eine melancholische Stimmung.

Als junger Pfarrer verliebte ich mich Hals über Kopf in unseren Sakristan. Er war 9 Jahre jünger als ich und nicht schwul. Das heisst, er hatte vermutlich den Zug einer homoerotischen Ausstrahlung. Ich hatte mit ihm nie über meine sexuelle Orientierung gesprochen. Ich hatte aber die gleichen Gefühle wie bei meiner ersten Liebe mit 17. Die ganze Sache war für mich schrecklich leidenschaftlich. Ich war auch eifersüchtig, wenn er mit anderen Leuten redete. Ich sprach mit niemandem über die Angelegenheit. Ich litt mit mir und vor mich hin. Schliesslich merkte ich, dass ich die ganze Angelegenheit nicht mehr unter meinem Deckel halten konnte. Es wurde mir klar, dass der Sakristan, ohne es zu merken, alle meine schwulen Ventile geöffnet hatte. Ich konnte sie nicht mehr schliessen, das heisst, verdrängen. Ich litt an einer Erschöpfungsdepression, die mir klar aufzeigte, dass ich "workaholic" war und überhaupt kein Privatleben hatte. Ich funktionierte nur über meine Rolle und machte auf Aktion, damit ich in keiner freien Minute meine innere Leere, Ausgetrocknetheit und Einsamkeit spürte. Ich glaubte bis dahin, meine Pfarrei sei meine Familie und würde mir einen Partner ersetzen.

Die äusseren Symptome waren Krankheit und Konzentrationsschwäche. Ich nahm ein längeres Time out, kurierte mich und begann eine psychologische Therapie. Ich hatte einen sehr guten Hausarzt, der mich auf meine Veranlagung ansprach und mir fundierte Hilfeleistung anbot.

Jetzt lernte ich meiner Veranlagung zu trauen. Ich akzeptierte sie und versuchte sie in mein Leben zu integrieren. Ich machte mein Coming out in meiner Familie und im Seelsorgeteam. Zu meiner grossen Überraschung hat mich niemand abgelehnt. Ich machte keine einzige schlechte Erfahrung. Viele erzählten mir, dass sie meine Veranlagung geahnt hätten und dass sie keine Probleme damit hätten, dass ich derselbe bleibe wie vorher, dass ich mir meine sexuelle Orientierung nicht selber ausgesucht hätte. Meine Mutter nahm mich in die Arme und sagte, sie hätte mich auch so gern und mein Schwulsein sei für sie kein Problem. Diese Erfahrungen haben mich echt stark gemacht, dass ich mit der Zeit sogar Freude an meinem Schwulsein empfand. Das ist bis heute so.

Ich hielt jetzt aktiv Ausschau nach einem Partner. Ich ging zum ersten Mal in schwule Bars und Discos. Ich machte sogar Inserate in schwulen Magazinen. Ich lernte auch Männer kennen und liess mich auf Beziehungen ein. Dass diese Männer auch im Pfarrhaus übernachteten und mit mir die Freizeit teilten, störte niemanden. Meine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter hatten und sahen da keine Probleme. Im Gegenteil, sie freuten sich mit mir über gelungene Beziehungen.

Es gab aber auch Krisen. Der Umstand, dass ich Pfarrer und eine öffentliche Person war, schreckte auch Männer ab, und dass sie nicht generell bei mir wohnen konnten. Es gab auch eine Zeit, da wollte ich das Amt aufgeben. Es gab Zeiten, da dachte ich, ich könnte meinen Beruf und mein Privatleben nie unter einen Hut bringen. Es war dann ein schwuler Freund (kein Sexpartner), der mir dringend geraten hatte, in der Kirche zu bleiben, weil es ganz wichtig wäre - auch für Schwule, dass ich als offener schwuler Priester mit meiner Homoerotik weiter wirken würde.

Ich begann mich mit schwuler Theologie auseinander zu setzen. Mit der Zeit las ich die Bibel mit der schwulen Brille. Mein Verhältnis zu Gott wurde anders. Meine religiöse Sprache wurde weicher und zärtlicher. Es wurde mir persönlich klar, dass es in der Schöpfungsgeschichte eine schwule Variante gab und dass Gott kein Schwulenhasser war.

In der Seelsorge sah ich plötzlich auch die Vorteile meines offenen schwulen Lebens. Dadurch, dass ich die Szene mit aller Perversion und gestörter Unnatürlichkeit kennen lernte und dadurch, dass ich selber mit Freud und Leid in Beziehungen lebte, predigte ich schliesslich leidenschaftlicher und war näher bei den Menschen und der Welt. Das hatte ich selber nicht gemerkt, aber die Leute gaben mir entsprechende Feedbacks, ohne dass sie etwas wussten.

Heute lebe ich in einer Landgemeinde. Und gerade hier mache ich meine besten Erfahrungen. Viele meiner Pfarreiangehörigen ahnen, dass ich schwul bin. Mein Seelsorgeteam weiss um meine Veranlagung. Nur wenige Pfarreiangehörige haben aber den Mut, mich direkt auf meine Veranlagung anzusprechen.

Ich spüre immer wieder, dass ich als Seelsorger von den Leuten akzeptiert bin, und dass sie mich hier gern haben. Sie schätzen meine Arbeit und es interessiert im Grunde niemanden, was ich für eine Sexualität habe und wer nachts in meinem Bett schläft. Bei den Jungen habe ich schon gehört, dass gesagt wurde: der Pfarrer ist schwul! Aber es wurde nicht als Schimpfwort gebraucht. Das Thema der Homosexualität ist heute öffentlich und enttabuisiert. Das Thema der schwulen Priester war und ist auch in der Presse.

Es haben sich in letzter Zeit auch Kollegen von mir geoutet und mussten in der Folge das Amt verlassen. Da kamen Leute zu mir, die sagten - ohne das Thema zu erwähnen: "Sie machen das aber nicht, wir wollen sie doch behalten"!

Ich erlebe manchmal auch so etwas wie eine provokante Höflichkeit: "Wie geht es eigentlich deinem Freund?" Da merke ich, die Leute wissen es und sie finden es normal. Es gibt auch Frauen, die kokettieren sehr gerne mit mir und meiner Veranlagung. Es ist heute fast "in", dass man zum Bekanntenkreis auch Schwule zählen kann. Ich will aber auch nicht verschweigen, dass es in meiner Pfarrei Leute gibt, die mit meiner Veranlagung nicht umgehen können. Sie würden versuchen, mich absetzen zu wollen, falls meine gelebte Homosexualität öffentlich würde. Ich habe mit der Zeit auch gelernt, zu merken, welche Leute für mich eine Gefahr bedeuten könnten.

Bis heute habe ich als schwuler Priester keine schlechten Erfahrungen gemacht. Für mich ist sehr wichtig, dass ich mit Kopf und Herz mit meiner Veranlagung umgehe. Ich habe gelernt, mein schlechtes Gewissen zu einem guten Gewissen zu verwandeln. Es kann vor Gott nicht schlecht sein, die Körperlichkeit, die ja zu mir gehört, in einem gesunden Mass in meinem Leben zu integrieren. Von dieser Energie kann schliesslich meine ganze Pfarrei profitieren.


Ich habe gelernt, die Angst abzuschütteln. Gerade im Evangelium habe ich die Erfahrung gemacht, dass die Angst nie ein Ratgeber im Leben sein kann. Ganz im Gegenteil: die Ermutigung von Jesus: "Habt Vertrauen", wurde mir immer mehr zum Lebensberater und Leitfaden!

Ich hausiere nicht mit meiner Veranlagung. Ich mache sie nicht speziell zum Thema. Ich provoziere auch nicht. Es fällt mir nicht ein, mich am Sonntag auf der Kanzel zu outen. Aufgrund meiner Erfahrungen, will ich auch mein Amt, wegen eines Mannes, nicht verlassen. Ich liebe meinen Beruf und die Kirche. Ich habe all die Jahre immer gespürt, dass ich hierher gehöre, und dass es für mich keine echte Alternative zum Priestersein gibt. Es ist mir auch egal, wenn mir Doppelbödigkeit vorgeworfen wird. Da muss ich festhalten, dass ich einerseits vom System der Kirche ja dazu gezwungen werde. Die Kirche hat die Berufung an das Pflichtzölibat gekoppelt und ist (noch) nicht bereit, hier etwas zu ändern. Andererseits habe ich die Erfahrung des enthaltsamen Lebens gemacht und nach Jahren festgestellt, dass das bei mir nicht mehr funktioniert. Aufgrund meines Gewissens kann ich Priestersein und gelebte Sexualität verbinden und habe keine Probleme damit.

Ich verstehe aber, dass es Priester gibt, die praktizierte Sexualität und/oder Partnerschaft mit dem Priesteramt und den gegenwärtigen Bestimmungen nicht vereinbaren können. Ich glaube, es ist darum ganz wichtig, dass hier jeder "Betroffene" seinen Weg findet und diesen geht. Und er soll mit der Akzeptanz seiner Mitmenschen rechnen dürfen.